„Sie ist heute unnötig und auch für die Zukunft überflüssig“
380-kV-Trasse | Freies Wort, Suhl, 29.102007
Der Wissenschaftler Lorenz Jarass kommt in seinem Gutachten zur Stromleitung über den Thüringer Wald zu einem eindeutigen Urteil.
Der Wirtschaftswissenschaftler Lorenz Jarass begleitet seit Jahren Energieprojekte in Deutschland und anderen Ländern, ist aber auch als Berater zum Beispiel für die EU-Kommission, das Bundesumweltministerium und Landesregierungen tätig. Mit dem Physiker Gustav Obermair leitet Jarass, der zu ökonomischen Aspekten der Windenergie promoviert hat, die in Wiesbaden ansässige Forschungsgesellschaft für Alternative Technologien und Wirtschaftsanalysen (ATW). In ihrem Gutachten zur geplanten Höchstspannungsleitung durch den Thüringer Wald kommen Jarass und Obermair zu einem eindeutigen Befund: Sie ist weder notwendig noch finanziell vertretbar.
Sie kritisieren, Vattenfall und Eon hätten keine überprüfbaren Unterlagen zur Notwendigkeit des Neubaus vorgelegt, das Thüringer Landesverwaltungsamt diese aber auch nicht verlangt. Sind Ihnen derlei Versäumnisse von anderen Verfahren bekannt oder ist das ein Thüringer Spezifikum?
Jarass: Das ist einfach unglaublich, so etwas habe ich noch nie erlebt, obwohl wir schon eine ganze Reihe vergleichbarer Projekte begleitet haben. Nach meiner Kenntnis ist das wirklich das erste Mal, dass praktisch keine überprüfbaren Unterlagen zur Notwendigkeit vorgelegt wurden.
Ebenso bemerkenswert ist, dass solche Unterlagen durch das Thüringer Landesverwaltungsamt im Zuge des Raumordnungsverfahrens auch nicht angefordert wurden. Es kommt einer riesigen Verschwendung von Steuermitteln gleich, wenn man jetzt feststellen muss, dass das ganze Neubau-Projekt von vornherein überflüssig war, aber die Planungs- und Genehmigungsverfahren trotzdem vorgenommen wurden.
Sind aus ihrer Sicht Anträge auf Raumordnung oder Planfeststellung mit solchen Mängeln überhaupt genehmigungsfähig?
Jarass: Das ist eine juristische Frage, die nicht mein Fachgebiet ist. Ich glaube allerdings, dass man mit solchen Lücken in der Antragsbegründung schlechte Karten für die Planfeststellung hat.
Wenn der Neubau nicht erforderlich ist, welche Gründe könnten Eon und Vattenfall sonst dafür haben?
Jarass: Eine Kapazitätsverstärkung ist mittelfristig schon erforderlich. Aber das geht, wie unser Gutachten zeigt, ohne Neubau. Es gibt kostengünstigere, technisch machbare Alternativen, die ohne Eingriffe in Natur und Landschaft auskommen.
Sie sagen, eine Ertüchtigung der bestehenden Verbindung Remptendorf-Redwitz reicht eigentlich aus und setzen dabei auf Leitungs-Monitoring und Hochtemperaturseile. Beides wäre in Deutschland, jedenfalls bei 380kV-Leitungen, ein Novum. Würde das überhaupt genehmigt?
Jarass: In anderen Ländern ist beides seit Jahren erprobt und Stand der Technik. Welches Argument will man gegen Hochtemperaturseile in Deutschland vorbringen, wenn zum Beispiel in Japan 70 Prozent des Netzes daraus bestehen? Und das Leitungsmonitoring wird für den 110-kV-Bereich in Schleswig-Holstein seit einigen Jahren praktiziert. Die Entscheidung des DIN-Ausschusses von 1995 besagt eindeutig, dass man den Netzbetrieb an Klimafaktoren wie Temperatur, Wind und Sonneneinstrahlung anpassen darf, wenn die entsprechenden technischen Voraussetzungen vorhanden sind. Das gilt für alle Spannungsebenen. Eine Ertüchtigung von Leitungen ist kostengünstiger und schneller zu realisieren als ein Neubau – genau das spricht dafür, solche Alternativen zu genehmigen.
Die nach Ihrem Befund auch nur dann nötig wären, wenn Eon in seinem Umspannwerk Mecklar keinen Windstrom aus Vieselbach aufnehmen will.
Jarass: Genau. Wir wissen zwar, dass dort bereits Windstrom von der Nordsee ankommt. aber Eon müsste schon detailliert nachweisen, wieso ein Ausbau von Mecklar für eine Einspeisung von Vieselbach nicht machbar sein soll und deshalb die Durchleitung nach Redwitz erweitert werden muss.
Welchen Sinn macht die Vattenfall-Planung mit 4 Stromkreisen bis in den Raum Schleusingen, wenn dort schwerlich der Bedarf für ein 2x380kV-Umspannwerk zu begründen ist?
Jarass: Gar keinen.
Vattenfall sagt, wir bauen schon mal rein vorsorglich, weil in Zukunft noch viel mehr Windstrom anfällt.
Jarass: Das Argument taugt nicht. Mittelfristig wird der relative Exportbedarf aus der Vattenfall-Regelzone sogar zurückgehen, weil der Offshore-Ausbau vor allem in der Nordsee stattfinden wird und weniger in der Ostsee. Und für die Ableitung der Offshore-Windenergie braucht es ohnehin ganz andere Leitungen und Netze. Da spielt eine Verstärkung im 380-kV-Netz zwischen Thüringen und Bayern keine Rolle. Kurz gesagt: Ein Neubau hier ist heute unnötig und für die Zukunft überflüssig.
Aus Ihrer Sicht verletzt der Neubau das Kriterium der wirtschaftlichen Zumutbarkeit, wie es im Erneuerbare-Energien-Gesetz formuliert ist. Aber könnten Vattenfall und Eon nicht einfach sagen: Gut, wir begründen jetzt nicht mit Windstrom, sondern mit anderen anderen Kriterien wie etwa Stromhandel?
Jarass: Das müsste detailliert mit Lastflussanalysen begründet werden, was bisher nicht geschehen ist. Und auch ein derartiger Netzausbau muss die wirtschaftliche Zumutbarkeit beachten.
Lässt sich mit dem Gutachten der geplante Neubau noch stoppen?
Jarass: Natürlich. Denn der Neubau ist teurer und dauert, wenn er überhaupt realisierbar wäre, länger als eine Ertüchtigung der Leitungen. Daran kommt keine Planfeststellungsbehörde und kein Gericht vorbei.
Interview: Jens Voigt