„Eichel ist ein Opfer seiner unsinnigen Steuerreform“
Die fünf Wirtschaftsweisen fordern in ihrem Jahresgutachten massive Einsparungen von Bund, Ländern und Gemeinden. Anderfalls werde Deutschland weiter gegen das Defizitkriterium der EU verstoßen. Wie könnte Finanzminister Hans Eichel also die Staatsausgaben senken und die Einnahmen erhöhen? tagesschau.de sprach darüber mit dem Wirtschaftswissenschaftler Professor Lorenz Jarass.

tagesschau.de: Die Konjunktur bleibt nach der Vorhersage der Wirtschaftsweisen schwach, die Steuereinnahmen gehen weiter zurück, die Verschuldung wird abermals gegen den EU-Stabilitätspakt verstoßen. Der Finanzminister will deshalb mit einigen komplizierten Börsengeschäften die Einnahmen erhöhen und zugleich weitere Steuervergünstigungen wie etwa Pendlerpauschale abschaffen. Ist er damit auf dem richtigen Weg?

Lorenz Jarass: Wir haben in diesem Jahr ein Wachstum von rund zwei Prozent und im kommenden Jahr von vielleicht 1,5 Prozent. An diese vergleichsweise niedrigen Raten müssen wir uns gewöhnen und können froh sein, wenn wir im Durchschnitt ein Wachstum von 1,5 Prozent haben. Daran müssen sich alle Maßnahmen orientieren. Was Eichel jetzt macht, sind Maßnahmen eines Ertrinkenden. Irgendwelche Forderungen zu verkaufen, führt dazu, dass die Banken sich eine goldene Nase verdienen. Der Steuerzahler aber muss noch mehr Steuern und Zinsen bezahlen, weil diese ganzen Geschäfte ja nur deshalb gemacht werden, um formaljuristisch das Defizitkriterium der EU einzuhalten. Weder werden dadurch die Ausgaben verringert, noch die Einnahmen erhöht.

tagesschau.de: Ist deshalb die Streichung von Vergünstigungen nicht dringend geboten?

Jarass: Es ist interessant, dass man mittlerweile unter Subventionsabbau versteht, dass der normale Arbeitnehmer mehr Steuern zahlen soll. Bis vor kurzem hat man darunter verstanden, dass man die irrsinnigen Subventionen für die Landwirtschaft, für die Steinkohle oder für große Konzerne reduziert. Nicht gemeint war, dass man denjenigen, die der Staat ohnehin schon ausplündert, auch noch die wenigen Vergünstigungen, die er noch haben mag, wegnimmt. Der Staat nimmt ja dem normalen Arbeitnehmer die Hälfte im Durchschnitt und zwei Drittel von Lohnerhöhungen weg.

tagesschau.de: Auffällig ist, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen steigen, aber die Steuereinnahmen hieraus sinken. Wie ist das zu erklären?

Jarass: Der Finanzminister will einfach nicht zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland nach neuen EU-Statistiken mit weitem Abstand die effektiv niedrigste Steuerbelastung auf Unternehmertätigkeit und Vermögen hat. In allen anderen alten EU-Ländern liegt die Belastung durchschnittlich bei 30 Prozent, in Deutschland nur bei 21 Prozent. Wenn man von international konkurrenzfähigen Steuersystem spricht, müsste man hier die tatsächlich bezahlte Belastung anheben.

tagesschau.de: Nominal liegen die Steuersätze gerade für Kapitalgesellschaften aber deutlich höher.

Jarass: Das Problem ist, dass die nominalen Steuersätze gerade für Kapitalgesellschaften mit 40 Prozent die höchsten in der alten EU sind, und die tatsächlich bezahlten Belastung nach unseren Berechnung seit der Unternehmenssteuerreform nur bei rund zehn Prozent liegen. Ich selbst war Mitglied der Unternehmenssteuerreform-Kommission. Wir haben immer dazu geraten, zunächst die systematischen Steuerschlupflöcher zu schließen und danach erst die Steuersätze zu senken. Die Bundesregierung hat aber 1999 die Steuersätze dramatisch gesenkt, und danach gab es keine Möglichkeit mehr, die Vielzahl der Schlupflöcher zu stopfen.

tagesschau.de: Wieviel Geld entgeht dem Fiskus dadurch?

Jarass: Nehmen wir an, Deutschland hätte die ohnehin extrem niedrige Steuerquote des Jahres 2000 beibehalten, die bereits damals die niedrigste in der EU war. Dann hätten wir im Jahr 2001 30 Milliarden und im Jahr 2003 50 Milliarden mehr Steuereinnahmen gehabt, in diesem Jahr 60 Milliarden und 2005 66 Milliarden. Es ist also nicht die angeblich lahmende Konjunktur und auch nicht die angeblich zurückgehenden Gewinne, die den Finanzminister in Schwierigkeiten bringen. Vielmehr ist es die selbstverschuldete, unsinnige und in vielen Fällen auch wirtschaftsfeindliche Steuersenkungspolitik der Bundesregierung – natürlich auch auf massiven Druck der Arbeitgeberverbände und der Opposition.

tagesschau.de: Was kann Hans Eichel von seinen europäischen Nachbarn lernen?

Jarass: Deutschland ist das einzige Land der alten EU-Länder, das zwischen 1995 und 2002 die tatsächlich bezahlte Abgabenlast für Einkommen und Steuerlast aus Unternehmertätigkeit und Vermögen deutlich veringert hat – Irland zum Beispiel hat sie dramatisch erhöht.

tagesschau.de: … und Irland gilt ja als wirtschaftspolitischer Musterknabe der EU.

Jarass: Irland macht ein vom Prinzip her richtiges Steuerverfahren. Es gibt relativ niedrige Steuersätze vor und setzt diese dann durch. In der Schweiz gibt es einen durchschnittlichen nominalen Steuersatz von 30 Prozent, davon werden 28 durchgesetzt. Die tatsächlich bezahlten Steuern sind also fast entsprechend der nominalen Steuersätze – im Gegensatz zu Deutschland. Die zehn Prozent tatsächlich bezahlter Steuersatz hierzulande werden übrigens im Wesentlichen von kleineren und mittleren Kapitalgesellschaften aufgebracht. Die großen Kapitalgesellschaften haben in den vergangenen Jahren praktisch überhaupt keine Steuern bezahlt, vielfach sogar Steuern netto zurück erhalten, obwohl ihre Gewinne jedes Jahr im Durchschnitt gestiegen sind.

tagesschau.de: Welche Steuerlöcher müssten rasch geschlossen werden?

Jarass: Zunächst müsste sichergestellt werden, dass auf die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen tatsächlich so viele Steuern gezahlt werden wie in allen anderen EU-Ländern auch. Wenn wir also die Belastung von im Durchschnitt 21 Prozent auf die untere Grenze von 28 Prozent anheben würden, hätten wir etwa 30 Milliarden Euro Steuern-Mehreinnahmen. Und dann gäbe es überhaupt kein Probelm mit dem EU-Defizitkriterium mehr. Vielmehr könnte man in Zukunftsbereiche wie Forschung und Bildung investieren .

tagesschau.de: Bei welchen Posten könnte der Finanzminister noch „zulangen“?

Jarass: Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Das jetzige Steuersystem führt systematisch dazu, dass der Steuerzahler den Export seines eigenen Arbeitsplatzes subventioniert. Die großen Konzerne und Kapitalgesellschaften können legal und dauerhaft einen großen Teil ihrer Auslandsinvestitionen – also vor allem die Schuldzinsen für diese Investitionen – in Deutschland steuerlich geltend machen. Die Erträge aus diesen Auslandsinvestitionen, die nach Deutschland fließen, sind aber fast steuerfrei. Wenn ein Unternehmen 10 Millionen Euro Schuldzinsen bezahlt, spart es dadurch 40 Prozent, also vier Millionen Euro. Wenn es im Gegenzug aus diesen Investitionen 10 Millionen Euro Dividenen zurück bekommt, muss es darauf nur 200.000 Euro Steuern bezahlen. Bei dieser Rechnung verliert Eichel also jährlich 3,8 Millionen Euro Steuern. Auslandsinvestitionen werden gegenüber Inlandsinvestitionen systematisch begünstigt.