Klimaretter, Susanne Ehlerding, 05. April 2013

 

Wer es schon immer geahnt hat, darf sich durch eine Tagung beim Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) bestätigt fühlen: Der geplante Netzausbau in Deutschland ist wahnsinnig überdimensioniert. Und er wird so auch nicht für die Energiewende gebraucht. Mehr Höchstspannungsleitungen sind nur deshalb nötig, damit parallel zum Ausbau der Erneuerbaren die Kohlekraftwerke weiterlaufen können. Das ist das Fazit eines Vortrags von Lorenz Jarass am heutigen Freitag beim DIW.

Aus Berlin Susanne Ehlerding

 

Der Experte nahm „methodische Fehler und Fehleinschätzungen der Netzausbauplanungen“ in seinem Vortrag aufs Korn. Dazu hatte ihn das DIW nach Berlin eingeladen. Lorenz Jarass ist Autor mehrerer Standardwerke zur Energiewende und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Am Freitag diskutierte er mit anderen Referenten das Thema „Netzausbau in Deutschland und den europäischen Nachbarländern – Ist weniger mehr?“

 

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Der Ökonom Lorenz Jarass räumt mit einigen Mythen der Stromnetzplanung auf. (Foto: Susanne Ehlerding)

 

Diese Frage beantwortete Jarass‘ Vortrag eindeutig mit Ja. Doch trotz all der Fehlplanungen ist der Professor „gut gelaunt“, weil sich nämlich seine Vorschläge für einen schlaueren Netzausbau langsam durchsetzen, wie er meint. So schlug Jarass schon vor Jahren die Umrüstung von Masten mit Hochtemperaturseilen statt einem Neubau vor. Damals stellten sich die Übertragungsnetzbetreiber noch hin und sagten: „Das geht technisch nicht und das haben wir sowieso noch nie gemacht“ – so erinnert sich Jarass an Diskussionen im Thüringer Landtag und in seiner Heimat Niederbayern.

 

„Einen gewissen Hoffnungsschimmer“ sieht Jarass mittlerweile auch beim Abtransport von Strom aus Windenergie. Zusammen mit dem Bundesverband Windenergie fordert der Experte, Lastspitzen abzuschneiden. Das bedeutet: Eine Stromleitung muss nicht mehr für die an wenigen windreichen Tagen anfallende maximale Leistung eines Windrades ausgelegt sein.

 

„Ja, sie sind wahnsinnig geworden“

 

Laut Zahlen der Bundesnetzagentur erzielt ein Winrad nur an 172 Stunden im Jahr mehr als 80 Prozent der installierten Leistung. Würde man sie nicht ernten, verlöre man nur 0,4 Prozent der gesamten Jahresarbeit von Onshore-Windenergieanlagen.

 

Die Netzagentur hat die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber nun aufgefordert, Alternativberechnungen für das Abschneiden seltener regenerativer Erzeugungsspitzen anzustellen. Im Sommer sollen die Ergebnisse vorliegen. Bisher gilt allerdings noch die Devise, die Leitungen müssten für die Spitzenwerte ausgebaut werden. „Sind die wahnsinnig geworden?“, fragt Jarass da angesichts dieses Angriffs auf den gesunden Menschenverstand und gibt die Antwort gleich mit: „Ja, sie sind wahnsinnig geworden!“

 

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So können Strommasten auch aussehen – ein künstlerischer Entwurf aus Island soll die
Akzeptanz bei den Bürgern erhöhen. Ob das wohl klappt? (Foto: Choi+Shine Architects)

 

 

Unsinnig ist laut Jarass auch das Prinzip des „marktgetriebenen Kraftwerkseinsatzes“. Das bedeutet, dass die Kraftwerke in der Reihenfolge ihrer variablen Kosten eingesetzt werden – bekannt unter dem Begriff „Merit Order“. Dabei kommen nach den erneuerbaren Energien mit ihren sehr geringen variablen Kosten gleich die Kohlekraftwerke an die Reihe, weil die Energieerzeugung aus Kohle angesichts des darniederliegenden Emissionshandels billig ist. Jarass nannte ein Beispiel dafür: An Tagen, an denen die Erneuerbaren den Strombedarf nicht decken können, wird deshalb zuerst vermeintlich billiger Kohlestrom von weit her transportiert, statt ein umweltfreundliches Gaskraftwerk von nebenan zu nutzen.

 

Zudem berücksichtigt die Netzausbauplanung nicht die Möglichkeit, konventionelle Kraftwerke herunterzuregeln, wenn genug Strom aus erneuerbaren Quellen im Netz ist. Dieser sogenannte Redispatch verursacht nämlich Kosten, die die Übertragungsnetzbetreiber im Gegensatz zum Netzausbau nicht auf die Kunden umlegen können, erklärte Jarass. „Den Netzausbau zahlt der Stromverbraucher, da fällt das Geld vom Himmel“, fügte er ironisch hinzu.

 

Netzausbau für Kohlekraftwerke bedroht Akzeptanz der Energiewende

 

Die Weigerung, Redispatch in die Netzausbauplanung einzubeziehen, widerspreche grundlegend der Energiewende, deren Ziel ja mehr erneuerbare Energien und weniger Kohlestrom seien, kritisierte Jarass: „Bei ausreichendem Erneuerbare-Energien-Angebot müsste die Kohlestromproduktion heruntergefahren werden. Der nun vorgesehene Netzausbau für den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken auch bei Starkwindeinspeisung ist deshalb extrem kontraproduktiv für die Energiewende und bedroht ihre gesellschaftliche Akzeptanz.“

 

Brauchen wir aber nicht trotzdem einen Netzausbau für die Zeit, wenn Deutschland seinen Strom zum größten Teil aus Erneuerbaren beziehen wird? „Wahrscheinlich nicht“, sagt Jarass. „Wenn wir das System total umbauen, ist das nach allem, was man für die nächsten 20 bis 30 Jahre sagen kann, nur denkbar, wenn wir in großem Umfang erneubares Gas herstellen.“ Gemeint ist die Speicherung von überschüssigem Strom als Gas, das mittels Elektrolyse hergestellt wird (Power to Gas). Noch befinden sich entsprechende Anlagen im Versuchsstadium.


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Vertreter der uckermärkischen Bürgerinitiative „Biosphäre unter Strom – keine Freileitung durchs

Reservat“ entfalteten bei der Tagung ein Transparent. Die Forschungsergebnisse von Lorenz

Jarass geben Bürgerinitiativen neue Argumente. (Foto: Susanne Ehlerding)

 

Die Kraftwerke, die dieses Gas verbrennen, müssten nah an den Verbrauchern stehen. Auch dafür wäre also kein Netzausbau nötig, glaubt der Experte. „Wer der Meinung ist, wir bräuchten für 100 Prozent Erneuerbare neue Leitungen, der muss es belegen“, sagte Jarass. Bisher stehe dieser Beleg aus.