Gutachten 380-kV-Trasse „Nicht mal selber in der Klarheit erwartet“. Freies Wort, Suhl, 30.102007
Großbreitenbach/Wiesbaden – Das gestern der Öffentlichkeit vorgestellte wissenschaftliche Gutachten zur Frage „Sinn oder Unsinn“ der vom Energiekonzern Vattenfall geplanten Höchstspannungstrasse wird für die Landespolitik und -verwaltung umfassende Konsequenzen haben.
Darin zeigten sich vor Kameras und Mikrofonen zahlreicher Sendeanstalten und Printmedien im Großbreitenbacher Feuerwehrhaus nicht nur die Auftraggeber und Finanzierer der Studie einig, zu denen vier Landkreise Thüringens und Bayerns sowie 25 Städte und Dörfer plus drei landesübergreifende Bürgerinitiativen gehören. Prof. Dr. Lorenz Jarass, dessen renommierte Wiesbadner Forschungsgesellschaft für Alternative Technologien und Wirtschaftsanalysen (ATW) gemeinsam mit Prof. Dr. Gustav Obermair (Uni Regensburg) das unabhängige Gutachten erarbeitete und nun vor aufmerksamem Auditorium anschaulichst erläuterte: „Ich habe nicht mal selber in dieser Klarheit das Resultat erwartet: Aber die geplante Trasse ist volkswirtschaftlich und mit Windenergietransport-Argumenten absolut unbegründbar!“ (FW 29. Oktober, Seite 3 ausführlich)
„Von historischer Dimension“: Gigantische Steuervergeudung
Jarass, zu dessen Auftraggebern ansonsten von der Weltbank und EU bis zur OECD auch die Bundesregierung gehört: „Für mich ist die von unten gestartete Bürgerinitiative von historischer Dimension, da sie erstmals seit dem Mauerfall landesübergreifend auf Sachargumenten bauend zurecht Protest geltend macht.“ Von nicht minderer Dimension sei die „gigantische Steuervergeudung“, mit der das Landesverwaltungsamt (LVA) das Raumordnungsverfahren durchzog und ab Altenfeld weiter führen will, ohne pauschale Vattenfall-Windenergie-Begründung und den wirklichen Zweck zu hinterfragen. Es habe sich gezeigt, dass das LVA keine aussagekräftigen Zahlen von Vattenfall vorgelegt bekam. Hier sei auf Steuerzahlerkosten ein LVA-Beschäftigungsprogramm gelaufen, das in seiner Folge ohnehin vielbeschäftigte Bürgermeister betroffener Kommunen durch Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die Bürger zusätzlich beschäftigte. Das Gutachten untersuchte ausschließlich wirtschaftlich-technische Aspekte der Pläne, deren Öko-Etikettierung dabei voll hinten runter fiel. Nach Stand der Technik gebe es keinerlei Neubau-Notwendigkeit, weil es zu der technologisch vielfach billigere Möglichkeiten u.a. durch Optimierung bestehender Systeme gibt. Die Schlussfolgerung aus dem Gutachten, dass es letztlich beim Neubau nur um die profitorientierte Strombörsenanbindung der „Gelddruckmaschine Pumpspeicherwerk Goldisthal“ geht, überließ Jarass anwesenden Bürgerinitiativen (BI) und deren Interessengemeinschaft „Achtung Hochspannung“. Ihr Sprecher Siegfried Kriese dankte unter Beifall der Kommunal- und BI-Vertreter für die breite Solidarität bei Finanzierung des Gutachtens: „Was wir alle ehrenamtlich und selbstfinanziert leisteten, wäre voll die Sache der Politiker gewesen, die vom Steuergeld der Bürger leben. Aber die Landespolitik hat ja hier sowas von versagt!“
Gastgeberin, Bürgermeisterin und Linke-Landtagspolitikerin Petra Enders, die maßgeblich die Proteste und das Gutachten initiierte, sagte zum weiteren Vorgehen nach den Enthüllungen durch die Studie: „Was für ein Skandal! Das LVA hätte verdammt noch mal seine Arbeit machen, die Landesregierung ihre Daseinsvorsorge für die Bürger wahrnehmen müssen. Es wird sofort Kontakte mit dem Land, der Bundesregierung und EU geben. Politische Forderung: Abbruch der Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren!“ K.-U. Hubert
Nichts Besseres als das Gutachten“: 380-kV-Leitung | Kein Bedarf, rechnen die Gutachter vor und machen den Bürgermeistern an der Trasse Mut
Südthüringer Zeitung, 30.10.2007. Von stz-KorrespondentGeorg Grünewald
Großbreitenbach – Wie kommt die Windenergie von der Küste zu den Verbrauchern im Süden des Landes? Über eine neue 380-kV-Hochspannungsleitung durch den Thüringer Wald, meint der Energiekonzern Vattenfall. Doch deren Bedarf bezweifeln die Gegner der Trasse. Jetzt haben sie es schwarz auf weiß: Die Trasse ist überflüssig.
Zu diesem Schluss kommt das Gutachten der „Forschungsgesellschaft für Alternative Technologien und Wirtschaftsanalysen“ (ATW), das die Anrainer-Kommunen der geplanten „Südwestkuppelleitung“ von Vieselbach bei Erfurt nach Redwitz bei Coburg in Auftrag gegeben haben. Gestern hat es einer der Gutachter, Professor Dr. Lorenz Jarass, in Großbreitenbach seinen Auftraggebern vorgestellt: vier Landkreisen, 26 Gemeinden und drei Bürgerinitiativen aus Bayern und Thüringen.
Zum einen, so hat er ausgerechnet, reiche die vorhandene Kapazität mit den beiden Hochspannungsleitungen von Vieselbach ins hessische Mecklar und nach Redwitz in Bayern noch bis zum Jahr 2010. Vorsichtig kalkuliert, fügt er hinzu. Wahrscheinlich auch bis ins 2012 oder 2013. Jedenfalls lange genug, um die bestehenden Leitungen zu ertüchtigen, ist der Gutachter der Kommunen überzeugt.
Auf Netzverstärkung und Netzoptimierung der bestehenden Hochspannungsleitung Remptendorf-Redwitz setzt Jarass. Durch Freileitungsmonitoring zum Beispiel. Mit der Hitzeentwicklung in den Kabeln hat Letzteres zu tun, erläutert er den Bürgermeistern. Und der nachvollziehbaren Logik: Mehr Strom, mehr Hitze. Um eine Überhitzung zu vermeiden, werde deshalb der Strom, der durch die Leitung gejagt wird, begrenzt. Nur: Bei dieser Begrenzung gehe man von Extrembedingungen aus. Sommerliche Hitze zum Beispiel, bei der die 80 Grad, auf die die Hochspannungsleitungen ausgelegt sind, schneller erreicht werden als beispielsweise im herbstlichen Nebel.
Aber selten herrschen 35 Grad im Thüringer Wald, wenn es an der Nordsee stürmt, gibt Jarass zu Bedenken. Würde man die Temperatur der Leitung überwachen, könnte man entsprechend mehr Strom durchleiten. Man könnte sich an den 80 Grad in der Leitung orientieren, statt Höchstmengen festzulegen, die auf Extrembedingungen ausgelegt sind. Eine Sache von wenigen Stunden sei es, die nötigen Messinstrumente für die Netzoptimierung anzubringen, erläutert Jarass.
Eine zweite Maßnahme sei in wenigen Monaten umzusetzen: Die Aufrüstung des bestehenden Netzes mit Hochtemperaturseilen. Auf 150 bis 200 Grad seien diese ausgelegt, entsprechend mehr Energie kann man durchleiten, ohne dass die Kabel zu heiß werden. Nur einen Nachteil gebe es: Die Übertragungsverluste würden steigen. Das falle aber kaum ins Gewicht, wenn es – wie Vattenfall behauptet – nur darum gehe, die Spitzenleistungen der Windenergie zu transportieren.
In Japan seien schon 70 Prozent des Hochspannungsnetzes mit solchen Hochtemperaturseilen ausgerüstet. Auch in den USA gebe es sie bereits und selbst in Tschechien. „Die wollen Geld sparen“, sagt der Wirtschaftsprofessor.
Das könnte auch Vattenfall, ist er überzeugt. Höchstens ein Viertel der Neubau-Kosten würde die Netzertüchtigung kosten, wahrscheinlich sogar nur ein Sechstel. Dabei könne man mit Netzverstärkung und Netzoptimierung die mittlere Belastbarkeit um mindestens 50 Prozent erhöhen. Kurzfristig sei sogar mehr als die doppelte Übertragungsleistung möglich.
Allemal genug für die erwarteten Windenergiezuwächse, ist der Gutachter überzeugt. Denn E.ON, Vattenfall und die dena-I-Studie der Deutschen Energie-Agentur machten einen entscheidenden Fehler: Sie gehen davon aus, dass sie ihr Netz für 90 Prozent der installierten Windkraftwerksleistung ausbauen müssten. Und sie ignorierten dabei, dass die Vorschriften des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) nur den Ausbau bis zur „wirtschaftlichen Zumutbarkeit“ fordern. „Wirtschaftlich zumutbar“ hat Jarass schnell definiert: „Der Nutzen muss höher sein als die Kosten.“ Im vergangenen Jahr habe der Wind aber nur eine Viertelstunde deutschlandweit so konstant kräftig geblasen, dass alle Windkrafträder im Schnitt 90 Prozent ihrer Leistung erreicht haben. Dass sich die Ausbauinvestitionen für diese Viertelstunde nicht lohnen, muss Jarass nicht weiter vorrechnen.
Wäre das Netz „nur“ auf 65 Prozent der theoretisch erzeugbaren Windenergie ausgelegt, würde immer noch weniger als 1 Prozent der Windenergie verloren gehen, weil man sie mangels Netzkapazität nicht einspeisen kann. Auch wenn Vattenfall die Windmüller für den 1-Prozent-Verlust entschädigen würde, käme das deutlich billiger als ein Netzausbau, hat Jarass ausgerechnet. Ein Ausbau darüber hinaus sei folglich wirtschaftlich nicht zumutbar.
Er sei selbst überrascht gewesen, wie eindeutig das Ergebnis ausgefallen sei, sagt Jarass. Es gebe überhaupt keine Vattenfall-Zahlen – außer denen zu den Windenergieprognosen. Nicht die einzige Überraschung, wie er betont. Die zweite: Er habe noch nie erlebt, dass eine so große Leitung gebaut werden soll, ohne dass der Energiekonzern eine Begründung vorlege. Ein Seitenhieb auf die Genehmigungsbehörden, vor allem das Thüringer Landesverwaltungsamt, das überhaupt nicht nach der Wirtschaftlichkeit und den Bedarf gefragt habe. Eine „gigantische Verschwendung von Steuergeldern“, empört er sich. Und ein Beschäftigungsprogramm für ohnehin überlastete Bürgermeister. Aber auch ein wichtiger Fakt im Falle einer Klage: „Jedes Gericht wird detaillierte Begründungen anfordern“, macht Jarass Bürgermeistern und Bürgerinitiativen Mut.
Die richten schon den Blick nach vorne. Vattenfall und E.On müssen ihre Anträge zurückziehen, fordert der Vorsitzende der Interessengemeinschaft „Achtung Hochspannung“, Siegfried Kriese. Wenn nicht, dann werde man „konsequent den Klageweg beschreiten“, versichert er.
„Etwas Besseres als das Gutachten kann man gar nicht in den Händen halten“, freut sich auch die Großbreitenbacher Bürgermeisterin und Landtagsabgeordnete Petra Enders (Die Linke). Auch EU und Bundesumweltministerium müssten das Gutachten zur Kenntnis nehmen. Und der Landtag sei gefragt. Einen entsprechenden Antrag für das November-Plenum werde sie vorbereiten, kündigt Enders schon mal an.