Ein Gastbeitrag von Sahra Wagenknecht, Linkspartei
n-tv, 20. Januar 2016
Italien-Referendum, Trump, Brexit – in vielen Ländern wird das Establishment abgestraft. Das liegt aber nicht an der Verführungsmacht geschickter Demagogen, sondern an der Zerstörung der alten Sozialstaaten.
Gerade hat das Establishment in Italien eine schallende Ohrfeige bekommen. 60 Prozent der Italiener haben gegen den Euro-Befürworter Matteo Renzi und seine Politik gestimmt. Profiteur dieser Stimmung wird bei der nächsten Wahl allerdings die Rechte sein, weil eine relevante Kraft auf der linken Seite des politischen Spektrums fehlt, seit die italienische Linke nach einem kurzen Regierungs-Intermezzo 2008 von den Wählern in die Bedeutungslosigkeit geschickt wurde.
In Österreich konnte ein FPÖ-Präsident Norbert Hofer gerade noch verhindert werden. Aber Hofer unterlag wohl auch deshalb, weil sein Gegenspieler Alexander Van der Bellen eben nicht für eine der Parteien der seit Jahren regierenden Großen Koalition steht, sondern selbst von einer Außenseiterposition kam. Und rund 48 Prozent für einen Kandidaten der äußersten Rechten – die Positionen der FPÖ entsprechen etwa denen des Höcke-Flügels der AfD – sind auch keine echte Entwarnung. Zumal wenn man weiß, dass 85 Prozent der Arbeiter in Österreich Hofer gewählt haben.
Diesen Ereignissen vorangegangen war das Brexit-Votum der Briten und die noch vor einem Jahr wohl von niemandem für möglich gehaltene Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Die Einschläge kommen näher, aber die Regierenden in den europäischen Hauptstädten und ganz besonders in Berlin schalten auf stur und machen weiter, als wäre nichts passiert. Wenn aber schon die herrschende Politik reagiert wie das Titanic-Orchester, wäre es zumindest Aufgabe eines kritischen Journalismus, Alarm zu schlagen, statt selbst mit aufzuspielen.
Der Artikel über meine Rede in der Generaldebatte „Trump auf links im deutschen Bundestag“ auf n-tv.de ist leider eins von vielen Beispielen für Letzteres. „Ludwig Erhard und Heiner Geißler“, kritisiert der Autor empört, „dienen als Kronzeugen, um Merkel Verrat an der sozialen Marktwirtschaft vorzuwerfen. Die Kernaussage dahinter hat durchaus Ähnlichkeit mit der zentralen Botschaft der AfD: Früher war die Welt besser, oder, für Wagenknecht, gerechter.“ Ist die Aussage, dass die soziale Ungleichheit heute größer ist als vor 30 Jahren, eine AfD-Botschaft? Oder die Feststellung, dass Erhards „Wohlstand für alle“ für eine sozial ausgewogenere Politik stand als Merkels „Wir schaffen das“? Wer so argumentiert, trägt unfreiwillig dazu bei, dass die AfD immer stärker wird. Denn die Mehrheit der Bevölkerung dürfte die genannten Einschätzungen teilen, weil sie schlicht der Realität entsprechen.
Politik orientiert sich an vermögender Oberschicht
Im gleichen Tenor geht es weiter: „Das Deutschland, das Wagenknecht schildert, steht kurz vor dem Untergang. Immer mehr Menschen hätten ‚gute Gründe, enttäuscht und wütend zu sein über eine großkoalitionäre Einheitspolitik, die sich für ihre elementaren Lebensinteressen, für ihre Zukunftsängste überhaupt nicht mehr interessiert‘. Was immer ‚Einheitspolitik‘ sein soll, rhetorisch ist Wagenknecht damit recht nahe an der AfD.“ Donnerwetter! Also nicht etwa, dass CDU/CSU, SPD, Grüne und FPD sich in ihrer politischen Ausrichtung immer mehr angenähert haben und wir daher seit Jahren in wechselnden Koalitionen immer die gleiche Politik bekommen, hat die AfD stark gemacht! Nein, wer diesen Profilverlust der Parteien beklagt, ist „nahe an der AfD“!
Stellen Sie sich vor, in einer Straße steht ein schönes altes Haus, das allerdings schwer baufällig ist. Nun gibt es einige, die das Haus abreißen wollen. Laut empören sie sich darüber, dass es marode ist. Sie schreien und pöbeln dabei unflätig. Andere wiederum wollen das Haus erhalten. Aber da jeder, der ausspricht, dass das Haus baufällig ist, sofort verdächtigt wird, auf der Seite der pöbelnden Abreißer zu stehen, behaupten die Freunde des Hauses tapfer, es befinde sich im besten Zustand. Und es sei übelster Populismus, darauf hinzuweisen, dass das Dach undicht ist und eine Wand sich bedrohlich abgesenkt hat. Irgendwann bricht das Haus zusammen. Die Freunde des Hauses verstummen traurig. Und die, die es immer schon abreißen wollten, kehren jubelnd den Schutt zusammen.
Für alle anfangs genannten Abstimmungs- und Wahlergebnisse gibt es letztlich die gleiche Erklärung. Sie liegt nicht in der Verführungsmacht geschickter Demagogen und schon gar nicht in der plötzlichen Aufwallung „postfaktischer“ Emotionen. Sie ist schlicht und rational: In Europa wie in den USA wird seit Jahren eine Politik gemacht, die sich in erster Linie an den Interessen mächtiger Wirtschaftslobbys – der Finanzwirtschaft, transnationaler Konzerne und der vermögenden Oberschicht – orientiert. Diese Politik wird üblicherweise neoliberal genannt, obwohl sie eigentlich weder neu noch im echten Sinne liberal ist. Im Kern besteht sie einfach darin, den im 20. Jahrhundert erstrittenen Sozialkompromiss wieder aufzukündigen. Diese Politik ist dabei, im Namen globaler Kapitalfreiheiten die alten Sozialstaaten und verankerte Arbeitnehmerrechte zu zerstören. Das führt zu deutlich wachsender Ungleichheit und konfrontiert große Teile der Mittelschicht, insbesondere die Arbeiterschaft, mit sozialem Abstieg oder mindestens der Angst davor.
Es ist allerdings schwer, in einer Demokratie dauerhaft Politik gegen die sozialen Interessen der Mehrheit zu machen. Irgendwann nutzt die Mehrheit ihr Stimmrecht und rebelliert gegen ein „Weiter-so“. Und wenn keine glaubwürdige soziale Alternative verfügbar ist, weil ehemalige Arbeiterparteien selbst Teil des neoliberalen Blocks geworden sind, wählt man eben rechts. Der linke französische Schriftsteller Didier Eribon sieht in der „Zustimmung zum Front National … eine Art politische Notwehr der unteren Schichten“. Das gilt auch für die Wähler Trumps und Hofers.
Um im Bild zu bleiben: Die Rechten sprechen aus, dass das Haus, das sie gern abreißen möchten – die Demokratie oder auch das geeinte Europa – baufällig geworden ist. Wer ihnen das Aussprechen dieser Wahrheit überlässt, will offenbar erleben, dass sie dereinst jubelnd den Schutt zusammenkehren. Ich möchte das nicht.