SPIEGEL-Online, 18. Juli 2012
Eine solche Steilvorlage lässt sich die Industrie nicht entgehen: Zwei
Minister der Regierung Merkel zweifeln an den Zielen der Energiewende,
prompt erhöht die Wirtschaft den Druck. „Die Politik muss die Kosten
senken“, fordert der Chef des Industrie- und Handelskammertags.
Hamburg – Vertreter der deutschen Wirtschaft greifen die Zweifel der
Bundesregierung an der Energiewende auf. Die Politik müsse bei der
Neuausrichtung ihrer Pläne insbesondere auf die Kosten achten, sagte der
Hauptgeschäftsführer des Deutschen-Industrie und Handelskammertags (DIHK),
Martin Wansleben, „Handelsblatt Online“. In den vergangenen Jahren hätten
drohende Kostensteigerungen zumindest teilweise durch mehr Effizienz, also
weniger Verbrauch, aufgefangen werden können. Doch die Möglichkeiten seien
geringer geworden, sagte Wansleben. „Die Politik muss daher mit hoher
Priorität die Kosten der Energiewende senken.“

Die Planungen von Bund und Ländern für Netzausbau und Ausbau der
erneuerbaren Energien müssten besser koordiniert werden, sagte Wansleben.
Der Einspeisevorrang der Erneuerbaren müsse begrenzt werden. Im Klartext:
Strom etwa aus Gaskraftwerken solle für die Betreiber rentabler werden –
damit sich der Bau solcher konventionellen Kraftwerke lohnt.
In den vergangenen Tagen hatten sowohl Umweltminister Peter Altmaier (CDU)
wie auch Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) an den zentralen Zielen
der Energiewende gezweifelt. Altmaier stellte unter anderem den geplanten
Rückgang des Stromverbrauchs um zehn Prozent bis 2020 in Frage. Rösler
bekräftigte am Mittwoch, er teile die Sorge vieler Verbraucher und gerade
auch der mittelständischen Unternehmen wegen der hohen Strompreise. Die
Bezahlbarkeit von Strom habe jetzt Vorrang, sagte er den „Lübecker
Nachrichten“. Er bekenne sich aber auch „ausdrücklich zu den Zielen und zum
Zeitplan der Energiewende“.

Ex-Umweltminister Töpfer hält Ziele für machbar

In der „Süddeutschen Zeitung“ warnten führende Umweltexperten davor, von der
Energiewende abzurücken. Der Umbau der Stromversorgung hin zu erneuerbaren
Energien sei machbar, sagte Ex-Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) der „SZ“.
Der Leiter des Umweltbundesamts, Jochen Flasbarth, kritisierte, dass die
Energiewende verstärkt als Kostenproblem dargestellt werde. „Ich hatte
gehofft, dass diese einseitige Kostenbetrachtung von vorgestern überwunden
sei“, sagte Flasbarth. Wenn die Umweltkosten einberechnet würden, seien
Atom- und Kohlestrom viel zu teuer.

 

Laut einer Greenpeace-Studie ist Strom in Deutschland auch gar nicht
besonders teuer: Deutschlands Industriestrompreise lägen im europäischen
Vergleich zwar relativ hoch, sie seien aber seit 2007 nicht gestiegen – im
Gegensatz zu fast allen EU-Staaten. Damit sei die deutsche stromintensive
Industrie in Bezug auf die von ihr gezahlten Strompreise in den letzten
Jahren sogar wettbewerbsfähiger geworden.

 

Wissenschaftler haben zudem ausgerechnet, dass die Kosten der Energiewende
deutlich gesenkt werden könnten. Deutschland verschwende Milliarden beim
Netzausbau, kritisieren die Wissenschaftler Lorenz Jarass und Gustav
Obermair. Ihr Vorwurf: Der Netzentwicklungsplan sei überteuert, ineffizient
und in Teilen sogar rechtswidrig. Er sehe den Bau zu vieler Leitungen vor
und belaste die Verbraucher mit geschätzten Kosten von 20 Milliarden Euro
bis 2022 über Gebühr.

Die Opposition warf der Regierung vor, es mit der Energiewende nie ernst
gemeint zu haben. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sprach im
SPIEGEL-ONLINE-Interview von einer „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann,
sagte, die Energiewende der Koalition bestehe bisher aus „reiner
Ankündigungspolitik“.bestens.