DER SPIEGEL 51/2004 – 13. Dezember 2004
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Finanzpolitik

Steueroase Deutschland

Von Sven Afhüppe und Wolfgang Reuter

Trotz anhaltender Klagen über zu hohe Abgaben: Die großen deutschen Kapitalgesellschaften beteiligen sich, verglichen mit vergangenen Jahren, kaum an der Finanzierung des Staates und der Gesellschaft – obwohl ihre Gewinne wieder kräftig wachsen.

Siemens-Chef Pierer:
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Siemens-Chef Pierer: „Wer Deutschland einmal verlassen hat, kommt so schnell nicht zurück“

Grundsätzlich findet Michael Rogowski ja, dass die Deutschen zu viel jammern. Jammern ist schlecht fürs Geschäft und damit für die Unternehmen, die Rogowski als Noch-Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) vertritt. Also empfiehlt er den Leuten gern, sich gefälligst zusammenzureißen und härter zu arbeiten.

Rogowski ist so gesehen ein Leuchtfeuer zupackenden Unternehmergeistes. Nur bei einem Thema zieht sich meist ein Leidenszug über sein Gesicht. Wenn das Gespräch auf die Unternehmensteuern in Deutschland kommt, dann verwandelt sich der BDI-Chef selbst in ein Bild des Elends.

Von einer Hetzjagd auf die Unternehmen ist dann die Rede und davon, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in Gefahr sei. Und alle in seinem Verband jammern in solchen Momenten düster mit.

Die steuerliche Belastung zwinge sein Unternehmen, eingehend zu prüfen, ob man nicht Teile des Geschäfts in „Länder mit einer niedrigeren Steuerquote“ verlagern müsse, sagt Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank. „Dieses Steuersystem wird zum Wachstumshemmnis“, klagt auch der umtriebige Unternehmensberater Roland Berger.

Ein Blick auf die Steuertabelle gibt den Wirtschaftsvertretern zunächst durchaus Recht: Die Unternehmensteuer für Kapitalgesellschaften liegt in Deutschland bei knapp 40 Prozent und damit so hoch wie in keinem anderen europäischen Land. Man sollte nur nicht so genau nachrechnen.

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Denn tatsächlich haben die Vorstände deutscher Großunternehmen zurzeit allen Grund zum Strahlen. Die Profitlage ist ausgezeichnet. Die Gewinne der im Deutschen Aktienindex Dax zusammengefassten Konzerne sprudeln wie schon lange nicht mehr. Und sie sollen noch weiter steigen.

Die Deutsche Bank zum Beispiel möchte schon nächstes Jahr auf jeden eingesetzten Euro 25 Cent verdienen – so viel hat das gebeutelte Institut seit Jahrzehnten nicht mehr erreicht. DaimlerChrysler wird seinen Gewinn in diesem Jahr voraussichtlich verachtfachen. Der Stahlriese ThyssenKrupp hat knapp doppelt so viel verdient wie noch vor einem Jahr, und der Versicherungskonzern Münchener Rück erzielt das beste Ergebnis seiner Unternehmensgeschichte.

Insgesamt, so schätzen Experten, werden die Dax-Unternehmen im kommenden Jahr fast genauso viel ausschütten wie im Rekordjahr 2000 – 15,2 Milliarden Euro. Wer sich aber die Mühe macht, die Bilanzen genauer zu betrachten, entdeckt schnell eine weitere Besonderheit: Viele deutsche Großunternehmen zahlen immer weniger Steuern. Ein Trend, der schon seit Jahrzehnten anhält.

Der Anteil der Körperschaftsteuer am gesamten Steuerkuchen ist seit den sechziger Jahren stetig gesunken – bis auf null im Jahre 2001. Im Folgejahr hatte die Deutsche Telekom einen Rekordverlust von 27 Milliarden Euro verbucht. Heute aber verdient sie wieder gut. 4,7 Milliarden waren es in den ersten neun Monaten 2004, womit der Konzern wieder zu einer ordentlichen Dividendenzahlung in der Lage ist. Bei den Steuern ist das Unternehmen deutlich zurückhaltender: In den vergangenen beiden Jahren hat der Bonner Ex-Monopolist laut seiner Geschäftsberichte kaum Steuern gezahlt.

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Bei DaimlerChrysler und der Deutschen Post betragen die bezahlten Steuern – bezogen auf das Konzernergebnis zwischen 1997 und 2002 – durchschnittlich 9 Prozent. Bei BASF waren es 12, bei Siemens 14 Prozent.

Mal reichen Verlustvorträge aus den vergangenen Jahren. Mal werden die Gewinne innerhalb der Firmen so lange hin und her geschoben, bis sie auf wundersame Weise verpuffen. Mal wird mit ausländischen Tochterfirmen getrickst.

Der Wiesbadener Wirtschaftsprofessor Lorenz Jarass hat ausgerechnet, dass die tatsächliche Steuerbelastung der Kapitalgesellschaften bei gerade mal zehn Prozent liegt. Entsprechend groß war die Erregung.

Denn solche Zahlen wecken reflexhaften Widerspruch. Jarass‘ Rechnung sei „lächerlich und falsch“, erklärt der BDI. Der Verband kontert mit einer „Modellrechnung“, nach der sich die gesamten Steuerzahlungen auf 53 Prozent summieren können.

Doch auch die EU-Kommission und die OECD kommen bei ihren Untersuchungen zur effektiven Besteuerung in Deutschland auf eine Quote von lediglich 20 Prozent – weit unter dem Durchschnitt der EU.

BASF-Werksgelände (in Ludwigshafen): Besonderheiten in Bilanzen
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BASF-Werksgelände (in Ludwigshafen): Besonderheiten in Bilanzen

Im Finanzministerium monieren die Beamten bereits, dass die Körperschaftsteuer „zu einer Art Bagatellsteuer“ abgesunken sei. Mittlerweile liefern die Raucher via Tabaksteuer mehr bei Berlins Kassenwart Hans Eichel ab als die Konzerne.

Wenn es um die Unternehmen geht, gilt Deutschland gemeinhin als Hochsteuerland. In Wirklichkeit ähnelt es, jedenfalls im internationalen Vergleich, für die Konzerne eher einem Steuerparadies. Die Erklärung für diese scheinbar paradoxe Situation liegt für Fiskal-Fachleute in einem ungewollten Effekt, den hohe Steuersätze mit sich bringen: den Anreiz zur Steuerflucht.

Die radikalste Lösung, um den Beitrag der Unternehmen bei der Finanzierung staatlicher Aufgaben zu steigern, wäre deshalb womöglich eine weitere Steuersenkung, glauben manche Fachleute. „Je niedriger die Sätze, desto geringer das Bedürfnis zur Steuergestaltung“, argumentiert der Gießener Steuerprofessor Christoph Spengel. „Davon profitiert der Standort Deutschland insgesamt.“

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Die Überlegung, die hinter seinem pragmatischen Vorschlag steht, sieht etwa so aus: Wenn die Unternehmen die zu versteuernden Gewinne unter Zuhilfenahme eines Heeres von Steueranwälten kleinrechnen – was natürlich ebenfalls Kosten produziert und sich damit seinerseits steuermindernd auswirkt – dann kann der Staat seine hohen Sätze auch getrost über Bord werfen. Denn hohe Steuersätze, die faktisch nur auf dem Papier stehen, sind nicht nur unsinnig, sondern geradezu schädlich:

  • Ausländische Investoren überlegen es sich dreimal, ob sie in einem Land investieren, dessen Spitzensteuersätze zumindest theoretisch über denen aller Nachbarländer liegen. Und was soll man auch entgegnen? „Mit tollen Verrechnungsmöglichkeiten, Schlupflöchern und Steuervermeidungsstrategien“, sagt ein Beamter des Finanzministeriums, „können Sie keine Werbekampagne bestreiten.“
  • Die hohen Sätze führen dazu, dass Unternehmen die Steuervermeidung zu einem der wichtigsten Ziele ihrer Finanzpolitik machen. Die Versuchung, eine unternehmenspolitisch riskante, aber steuerlich vorteilhafte Entscheidung zu treffen, ist also hoch.
  • Zudem wird Produktion ins Ausland verlagert. Denn wer beispielsweise in Slowenien eine Tochtergesellschaft erwirbt, kann die Finanzierungskosten hierzulande absetzen. Die Gewinne hingegen, die später bei der Muttergesellschaft in Deutschland ankommen, werden nur mit zwei Prozent versteuert.

Dass viele Unternehmen die Vorzüge erkannt haben, die eine Tochterfirma im Ausland bringt, bekommt Finanzminister Eichel schwarz auf weiß mit der halbjährlichen Steuerschätzung. Für seine Beamten ist klar, dass nicht nur die schwache Konjunktur für den Einnahmeeinbruch bei den Körperschaftsteuern verantwortlich ist, sondern eben auch die Gewinnverlagerung ins Ausland.

Pro Tag, so schätzen Experten, verschwinden 1000 bis 1500 Arbeitsplätze aus Deutschland und wandern in steuergünstige EU-Nachbarländer. Was aber nicht zwischen Flensburg und München produziert wird, bringt Eichel auch keinen Cent in die Kasse.

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Jetzt rächt sich, dass die rot-grüne Regierung bei der Besteuerung von Unternehmen seit der Reform im Jahr 2000 nichts Neues auf den Weg gebracht hat. In der Zwischenzeit sind zehn neue EU-Mitglieder hinzugekommen, die von Unternehmen im Schnitt halb so viel Abgaben verlangen. Viele europäische Nachbarländer haben nachgezogen. Österreich wird Anfang Januar die Steuer für Kapitalgesellschaften auf 25 Prozent drücken.

Eichel wagt solche drastischen Schritte nicht. Stattdessen hat er seine Beamten angewiesen, den Unternehmen das Steuersparen zu erschweren. 70 Steuerschlupflöcher habe er geschlossen, rühmt sich der Finanzminister in einer drei Millionen Euro teuren Werbekampagne, die kürzlich angelaufen ist.

Geholfen hat es wenig. Zwar hat der Minister per Gesetz ein Moratorium verhängt, so dass die milliardenschweren Gutschriften der Unternehmen auf die Körperschaftsteuer drei Jahre lang nicht aufgelöst werden dürfen. Das Problem ist damit nur aufgeschoben. Nach Ablauf der Frist drohen ab 2006 neue Einnahmenlöcher. Dennoch bietet das Steuerrecht auch heute ausreichend Möglichkeiten, mit denen sich Gewinne nachträglich wegrechnen lassen:

  • Wer sich im Ausland Geld leiht oder dort Lizenzgebühren bezahlt, kann damit seine Gewinne im Inland schmälern – zu Lasten der deutschen Volkswirtschaft.
  • Aufwendungen können auch dann als Betriebsausgaben geltend gemacht werden, wenn der daraus entstandene Ertrag in Deutschland steuerfrei ist.
  • Die sogenannte Organschaft bietet den Unternehmen zahlreiche Möglichkeiten, Gewinne und Verluste zwischen Unternehmenstöchtern und der Muttergesellschaft hin- und herzuverschieben, Hauptsache: am Fiskus vorbei.

Der Rat der fünf Wirtschaftsweisen hat nun in seinem jüngsten Jahresgutachten eine Reform der Unternehmensbesteuerung angemahnt, um „die steuerliche Attraktivität des Standorts Deutschland zu sichern“, wie es dort heißt.

Politische Vorschläge lassen dagegen bislang auf sich warten. So kommt das steuerpolitische Papier der Union über Allgemeinplätze kaum hinaus. Wie hoch künftig der Körperschaftsteuersatz sein soll, dazu schweigen die CDU/CSU-Steuerexperten.

Einen umfassenden Reformentwurf plant derzeit allein eine parteiübergreifende Kommission unter dem Dach der Stiftung Marktwirtschaft. Michael Eilfort, Leiter der Stiftung und ehemaliger Büroleiter des CDU-Finanzexperten Friedrich Merz, verspricht ein vollständiges Konzept bis Ende nächsten Jahres.

Er weiß, dass die Zeit drängt: Je später die Unternehmensteuerreform kommt, desto mehr Firmen haben ihren Sitz ins Ausland verlagert. „Und wer einmal Deutschland verlassen hat“, da ist sich Eilfort sicher, „kommt so schnell nicht wieder zurück.“


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· Konzernbesteuerung: Steueroase Deutschland (08.11.2004)
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