SPIEGEL-Online, 29.08.2013

 

Mehr Klimaschutz? Von wegen. Laut einer internen Prognose der Bundesnetzagentur werden Braunkohlemeiler auch 2022 mit fast voller Kraft laufen – obwohl man ihren Strom immer weniger braucht. Hauptgrund sind politische Fehlsteuerungen.

 Trotz Energiewende - Netzagentur rechnet mit langem Braunkohle-Boom

Hamburg – Bei der Gestaltung der Energiewende ist die Bundesregierung im Wahljahr vor allem durch Untätigkeit aufgefallen. Der Umbau der deutschen Stromversorgung erhält dadurch eine problematische Richtung: Der Klimaschutz wird vernachlässigt, und den Verbrauchern werden unnötig hohe Kosten zugemutet.

 

Wie sich Deutschlands Energieversorgung in den kommenden zehn Jahren entwickeln soll, zeigt eine Prognose von Deutschlands oberster Energiebehörde, der Bundesnetzagentur. Das Dokument, das SPIEGEL ONLINE vorliegt, prognostiziert für jede Stunde des Jahres 2022, wie viel Strom die unterschiedlichen Kraftwerke produzieren. Zwei Punkte sind bemerkenswert:

 

  • Obwohl der Anteil von Ökostrom von 23 auf 35 Prozent steigen soll, sind die Braunkohlekraftwerke laut Bundesnetzagentur auch 2022 fast durchgehend enorm stark ausgelastet.
  • Die absolute Strommenge, die Braunkohlekraftwerke ins Netz speisen, soll nur leicht sinken: 2012 produzierten die Meiler gut 159 Terawattstunden Elektrizität; 2022 sollen es 148 Terawattstunden sein.

 

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Prognose der Bundesnetzagentur für 2022: Braunkohlemeiler sind fast durchgehend stark ausgelastet.
Nur ab und an sinkt die Produktion drastisch,unter anderem durch Wartungsarbeiten.

 

Insgesamt steigt die deutsche Stromproduktion sogar. Zwar fallen durch die Atomkraftwerke, die bis 2022 nach und nach vom Netz gehen, gut 100 Terawattstunden Elektrizität weg. Doch die Ökostromanlagen, die im selben Zeitraum hinzukommen sollen, schaffen rund 150 Terawattstunden.

 

Gewaltige Überproduktion

Die Folge: In Deutschland wird immer mehr Strom produziert, den man zur nationalen Versorgung gar nicht braucht. Dadurch steigen die Exporte. Schon im vergangenen Jahr waren sie mit knapp 23 Terawattstunden auf einen neuen Rekordwert gestiegen. Für 2023 geht die Bundesnetzagentur gar von 75 Terawattstunden aus – genug Strom, um mehr als 21 Millionen Haushalte ein Jahr lang zu versorgen. Aus der gewaltigen Überproduktion ergeben sich zwei Probleme:

 

  • Den Verbrauchern werden in kurzer Zeit sehr hohe Kosten zugemutet. Um die Strommassen zu transportieren, müssen sehr schnell neue Leitungen gebaut werden – was Milliarden kostet. Dazu steigt paradoxerweise die Stromrechnung der Endverbraucher. Denn Elektrizität aus Ökostromanlagen wird mit einem festen Preis vergütet. Die Differenz zwischen Fixpreis und Börsenpreis gleichen die Verbraucher über ihre Stromrechnung aus. Durch das immer größere Überangebot sinkt der Börsenpreis, und die Verbraucher zahlen immer mehr drauf.
  • Zudem verkommt der Begriff Energiewende zur Phrase. Es wird weit mehr klimaschädlicher Braunkohlestrom produziert, als für die Versorgung der Bundesrepublik nötig wäre. Das Versprechen „Mehr Ökostrom = mehr Klimaschutz“ wird nicht eingelöst – obwohl die Verbraucher genau dafür Milliarden zahlen. Rächen könnte sich das womöglich beim Netzausbau. Der in der Bevölkerung unbeliebte Bau neuer Leitungen dürfte noch unbeliebter werden, wenn sich herumspricht, dass man die Strippen nicht nur für den neuen Ökostrom braucht, sondern auch, weil Strom aus schmutziger Braunkohle die Netze verstopft.

 

Die Bundesnetzagentur teilt mit, die interne Prognose bilde die derzeit gültigen Mechanismen des Strommarkts ab. Der Betrieb von Braunkohlekraftwerken sei enorm günstig. „Ihre Wettbewerbsposition wird bei einem zunehmenden Anteil erneuerbarer Energien kaum beeinträchtigt.“ Der gewaltige Ausbau der Leitungen ergebe sich aus der geltenden Rechtslage: Diese verpflichte die Betreiber der Netze dazu, den Kraftwerken stets allen Strom abzunehmen, „diskriminierungsfrei“.

 

Alternativen zu wenig berücksichtigt

Daran zeigt sich das Grundproblem der Energiewende. Die Bundesregierung hat zu lange nicht gestaltet. Nun werden die Gesetze den Anforderungen der Energiewende immer weniger gerecht.

 

Ändert sich das nicht bald, entsteht in Deutschland ein Strommarkt, dessen CO2-Ausstoß trotz Ökowende kaum schrumpft. Und es entsteht ein Monsternetz, das den Verbrauchern schon jetzt hohe Kosten für den Neubau von Leitungen zumutet, die ohne Überproduktion vielleicht erst später, an anderer Stelle oder gar nicht gebaut werden müssten.

 

Man könnte die Energiewende anders gestalten. Eine breite Front von den Grünen bis zum Kraftwerksbetreiber E.on fordert zum Beispiel, den Handel mit CO2-Verschmutzungsrechten in Europa wiederzubeleben. Wären die Ausstoßrechte für Kohlendioxid nicht mehr so spottbillig, zum Beispiel indem man die Verschmutzungsrechte verknappt, würden die besonders CO2-intensiven Braunkohlekraftwerke automatisch an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Nur gehen die Chancen für einen solchen Kompromiss gegen Null. Zu mächtig ist der Einfluss der Industrie in Brüssel.

 

Auch in Deutschland gibt es Ansatzpunkte für eine klima- und verbraucherfreundlichere Energiewende. Ein Weg wäre, die Stromnetze nicht länger als neutrale Infrastruktur zu verstehen, sondern auch als Steuerungsinstrument für die Energiewende. Man könnte Engpässe also in Kauf nehmen, um den Platz für überschüssigen Strom zu begrenzen. So hat das Forschungsinstitut Ecofys ebenfalls gerade in einer Studie beleuchtet, dass der Ausbau erneuerbarer Energien auch bei verzögertem Netzausbau möglich ist – sofern die neuen Anlagen gleichmäßig über die Bundesrepublik verteilt werden.

 

Andere fordern, Gaskraftwerke im Wettbewerb zu stärken. Diese verursachen deutlich weniger CO2 und lassen sich schnell hoch- und herunterfahren. Sie könnten die schwankende Versorgung aus erneuerbaren Energien gut ausgleichen.

 

Die kommende Bundesregierung wird sich diese und andere Vorschläge ansehen müssen. Es ist höchste Zeit, die kommende Phase der Energiewende zu gestalten. Eine Reform der Förderung erneuerbarer Energien wird dazu nicht reichen. Es geht um das große Ganze.